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„Eine sanfte Geburt ist mir zu esoterisch!“ – Warum wir diesen Bullshitsatz nicht ignorieren dürfen

von | Jun 8, 2022 | 2 Kommentare

Vor wenigen Wochen durfte ich einer werdenden Mama beim Small-Talk von TIO_B erzählen. Das war gar nicht so leicht, denn wir stecken ja momentan noch in der Dreck-Aufwühl-Phase, wenngleich wir hinter den Kulissen bereits an unserem Herzstück arbeiten: ein Leitfaden, der zusammenfasst, was gute Geburtsbilder brauchen. Und ich wollte ihr ja nicht diese ganze, aktuelle Sch**** kurz vor ihrer Geburt auf den mentalen Karren packen.
Im Endeffekt weiß ich gar nicht mehr, was ich alles gesagt habe über unsere positiven Visionen, dafür geht mir seitdem ihr Satz nicht mehr aus dem Kopf. Ein Satz, den ich schon so oft gehört und gelesen habe: „Ja, ich habe etwas zur »Sanften Geburt« gelesen, aber das ist mir alles zu esoterisch!“ Bums! Da höre ich förmlich die Tür in Gedanken zufallen. Aber warum? Warum, verdammt nochmal, ist in vielen Köpfen die Sanfte Geburt ein Synonym für Heitideiti und Firlefanz, denn das ist ja mit esoterisch heutzutage gemeint. Ist halt nur völlig vorbei am Thema. Das müssen wir also mal klären.

Alles auf Anfang

Woher kommt denn die Bezeichnung „Sanfte Geburt“? Frédérick Leboyer hat sie in den 1970er Jahren erstmals in seinem Buch Der sanfte Weg ins Leben –  Geburt ohne Gewalt eingeführt. Und wie der Titel schon sagt, geht es ihm bei einer sanften Geburt weder um eine schmerzfreie Geburt, noch um Romantisierung oder gar Verharmlosung. Es ging ihm dabei schlichtweg, um eine Geburt ohne Gewalt – ohne unnötige Interventionen in einem geborgenen Geburtsumfeld. Damals lag sein Fokus besonders auf einem besseren, sanfteren Geburtserlebnis für das Neugeborene. Doch wir wissen heute besser denn je, wie sehr das Wohlbefinden der Mutter an das Wohlbefinden des Kindes (ach was, der ganzen Familie) gekoppelt ist. Unter der Geburt und auch lange noch danach!

Ihre Suche nach „Sanfte Geburt“ ergab 23 Treffer

Und was ist daraus geworden? Dafür haue ich mal eben „Sanfte Geburt“ bei einem großen Buchhandel in die Suchmaschine und bekomme folgende Ergebnisse sortiert nach „Beste Treffer“: Auf Platz 1 hätten wir da aktuell Hypnosis-Babys – sanfte Geburt durch Hypnose von Ulrich Eckhardt, gefolgt von Sanft gebären: Mein Weg zu einer schmerzfreien Geburt von Katharina Pahl. Auf Platz 3 folgt Marie F. Mongans HypnoBirthing. Der sichere Weg zu einer sicheren, sanften und leichten Geburt. Und im Schlepptau folgen noch zig weitere Hypnobirthing-Bücher von den unterschiedlichsten Autor:innen. Woher diese Vereinheitlichung kommt? Zum Beispiel, weil sich die Hypnobirthing-Community diese Begrifflichkeit scheinbar unter den Nagel gerissen hat. No offense!

So, und bevor hier irgendjemand aus dieser Community Schnappatmung bekommt – nein, ich halte Hypnobirthing nicht für Blödsinn oder Verharmlosung. Ich selbst habe für meine 2. Geburt das Buch von Mongan zu Rate gezogen und sehr viel gelernt. Wem es hilft, auf diese Art und Weise seine Gedanken zu sortieren, zu konzentrieren und dadurch der Angst nicht so viel Spielraum zu geben, soll das bitte, bitte unbedingt machen! Weniger Angst, bedeutet bekanntlich mehr Oxytocin, was wiederum für mehr Wohlbefinden und – guess what! – gute Geburtswehen sorgt.
Was ich stattdessen will ist, dass diese beiden Begrifflichkeiten nicht mehr so einander geklebt werden. Hypnobirthing ist lediglich eine von vielen Methoden, die zu einer sanften Geburt verhelfen können.

Assoziationsküche

Schauen wir uns aber nochmal ganz kurz dieses Aneinanderkleben genauer an. Viele denken also mittlerweile, dass eine sanfte Geburt automatisch Geburt unter Hypnose bedeutet. Interessant ist, dass dies wiederum für Viele „zu esoterisch“ ist. Hier werden also viele Assoziationen in einen Topf gehauen und mal so richtig umgerührt. Sanfte Geburt ist gleich Hypnose ist gleich esoterisch ist gleich Tarotkarten und Räucherstäbchen.
Mich würde hier einfach brennend interessieren, ob das gleiche auch Patienten mit psychischen Erkrankungen so geht. Stellen wir uns kurz vor, wir haben mental an so einigen Themen zu knabbern und sind deshalb in psychotherapeutischer Behandlung. Und dann kommen wir eines Tages an den Punkt, wo unser*e Therapeut*in sagt: „So Frau XY, nächste Woche würde ich dann gerne für ihre Traumabewältigung mit den Hypnose-Sitzungen beginnen“. Wer sagt denn da bitte: „Och nee, das ist mir glaube ich zu esoterisch!“ ? Eben!

Warum soll also die Hypnose hilfreich sein bei der Bewältigung von Traumata, aber bei der Prävention von solchen ist es esoterischer Quatsch?

Von Innen nach Außen

Gut. Lassen wir das. Zurück zur sanften Geburt. Und zur Esoterik. Da wir bereits gelesen haben, was über die Jahre so passieren kann mit Begriffen und ihren Bedeutungen schauen wir auch hier mal auf den Ursprung. Esoterik und Exoterik. Beide Wörter stammen aus dem Altgriechischen und bedeuten erstmal nichts Anderes als innerlich oder von innen her (Esoterik) und äußerlich bzw. nach außen hin (Exoterik). Sie wurden in der Antike verwendet, um genau zu unterscheiden, an wen sich philosophische Schriften richteten. Entweder an einen kleinen, eingeweihten, „inneren“ Personenkreis oder an die Allgemeinheit im „Außen“. Die Religionswissenschaft übernahm beide Begriffe dann, um ebenfalls offen zugängliches Wissen von geheimen, religiösen Lehren und Praktiken zu unterscheiden. Das es heute überwiegend negativ konnotiert ist, muss ich glaube ich nicht mehr erwähnen, weil sonst würde es diesen Blogartikel ja nicht geben.

So, und ich möchte nun zu diesem ursprünglichen Zweck dieses Wortes zurück. Denn mich interessiert null, was Irgendwer irgendwann einmal für seine eigenen Zwecke mit diesem Begriff gemacht hat, weil Irgendwer immer irgendwas irgendwann für seine eigenen Zwecke (miss)braucht und ein Wort damit seiner eigentlichen Bedeutung beraubt. Ist scheinbar eine menschliche Angewohnheit.

Es ist allerdings, als würde ich einen Gegenstand erfinden, um zum Beispiel (Tür-)Schlösser zu öffnen oder zu verschließen und ihn dann später auch zum Öffnen von Paketen nutzen zu wollen, nur weil er auch scharfe Zacken hat, um mich dann darüber zu ärgern, dass das nur so mittelmäßig bis gar nicht funktioniert. Also lasst uns den Schlüssel einfach wieder für seinen ursprünglichen Zweck nutzen, zum Öffnen und Verschließen von Schlössern.

Kartenlegen und Räucherstäbchen

Interessant ist auch wie nah die im Volksmund vorverurteilte Esoterik, also mit Kartenlegen und Räucherstäbchen, bereits den aktuellen Bedürfnissen (auch unter der Geburt) ist. Viele Frauen sehnen sich nämlich mittlerweile nach Zuspruch und Motivation, und nutzen mittlerweile nicht selten AffirmationsKARTEN dafür. Und auch die Aromatherapie wird gerne von vielen Hebammen, wie Ingeborg Stadelmann, intensiv genutzt.

Ätherische Öle können über unser limbisches System und einen Reiz-Reaktions-Mechanismus unseren Körper beeinflussen, Wohlbefinden auslösen und damit Heilungsprozesse unterstützen. Die Duftmoleküle werden über den Blutweg innerhalb von Minuten ins Blut transportiert, verstoffwechselt und binnen einiger Stunden wieder ausgeschieden. […] Da Wohlbefinden für Entspannung sorgt und somit eine größere Schmerzverträglichkeit entsteht bzw. das vegetative Nervensystem positiv beeinflusst wird, lag es nahe, die wohltuenden Öle auch in der Geburtshilfe anzuwenden. Bei einem Geburtsverlauf sollten so wenig Medikamente wie möglich eingesetzt werden müssen, um das Kind nicht unnötig zu belasten und vor allem die der Frau zu vermitteln, dass sie selber fähig ist zu gebären. Genau das kann mit der Aromatherapie bei den Gebärenden erreicht werden.

Ingeborg Stadelmann, Die Hebammensprechstunde, 2005, S.451-462.

Wer das für Kickifax hält, muss sich einfach mal selbst fragen, wie entspannend er sommerliche Fahrten in einer überfüllten Berliner S-Bahn oder den Schlaf in der frisch gewaschenen Bettwäsche findet. Eben! Und diese kategorische Ablehnung aufgrund von Unwissenheit oder Vorurteilen bringt niemandem etwas!

Für mehr Esoterik in der Geburtshilfe!

Ich will zurück zu der Von-innen-heraus-Esoterik. Auf nichts Anderem baut übrigens auch der ganze aktuelle Achtsamkeits- und Affirmationstrend auf.  Und für eine gewalt- und interventionsfreie Geburtshilfe gibt es nichts Besseres als Esoterik. Also lasst eine sanfte Geburt bitte verdammt nochmal esoterisch sein! Ich bin für mehr Esoterik in der Geburtshilfe, denn das bedeutet, dass nicht von außen Geburt gemacht wird, sondern die Frau von innen heraus ihre Geburt leitet. Es bedeutet, dass die Frau durch verschiedene Techniken (wie zum Beispiel die Hypnose) einen Zugang zu ihren INNEREN Bedürfnissen für ein sicheres, gutes Geburtserlebnis bekommt und dann ganz exoterisch sagt, was sie braucht – Berührung, Licht, Lautstärke, Sicherheit, Anleitung, Hilfestellung – you name it! Es bedeutet, dass das Außen (Geburtshelfer, medizinisches Personal) sich zurückhält und nicht ständig versucht ein Teil des „eingeweihten Kreises“ (Gebärende und Begleitung) zu sein.

Übrigens ist die Bezeichnung „Sanfte Geburt“ so mit Hypnose-Stickern zugekleistert, dass wir mittlerweile neue Bezeichnungen für eine selbstbestimmte, angst- und gewaltfreie Geburt brauchen. Siehe die neueste Publikation von Kristin Graf: Die friedliche Geburt. Ich will auch jetzt gar nicht erst Einsteigen in die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Frieden oder friedlich, das ja immer auch die Worte Kampf oder Krieg im Gepäck hat. Nein, diese Worte machen ja in der modernen Geburtshilfe gar keinen Sinn *hust*.

Was jetzt eure Aufgabe da draußen ist?

Aufklärung! Wenn euch so ein Bullshitsatz, wie die Autorin Alexandra Zykunov es nennen würde, um die Ohren gehauen wird, dann lasst es bitte nicht als falsches Totschlagargument stehen, sondern geht da mit Herz und Hirn rein und klärt auf. Erzählt von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Esoterik. Davon, dass es nichts Anderes als von innen nach außen bedeutet und es nichts Besseres für eine gute Geburtshilfe gibt, bei der Frauen in sich selbst die Verantwortung und Stärke finden. Gebt den Hinweis, dass eine sanfte Geburt lediglich eine selbstbestimmte, angst- und gewaltfreie Geburt möchte, wo positive Gedanken durch Hypnose nur ein kleiner Teil aus dem Zutatenschrank ist.

Seid mutig und stellt die Dinge richtig! Danke.

Langer Blog – kurzer Sinn

  • Sanfte Geburt bedeutet Geburt ohne Gewalt
  • Sanfte Geburt bedeutet NICHT Hypnobirthing
  • Hypnose ist nur eine von vielen Techniken für eine sanfte Geburt
  • Esoterik bedeutet wörtlich Von Innen heraus und ist damit ein wichtiger Aspekt einer selbstbestimmten Geburt
  • Die Wörter Esoterik/esoterisch brauchen eine Rückbesinnung auf ihre Wortherkunft
  • Esoterische Geburt ist nichts anderes als eine selbstbestimmte Geburt

Literatur

Frédérick Leboyer, Geburt ohne Gewalt, Kösel, 1995.

Marie F. Mongan, HypnoBirthing. Der sichere Weg zu einer sicheren, sanften und leichten Geburt, Mankau, 5. Auflage, 2014.

Kristin Graf, Die Friedliche Geburt, Kösel, 2022.

Ingeborg Stadelmann, Die Hebammensprechstunde, Wiggensbach, 8. Auflage, 2005.

https://www.dwds.de/wb/Esoterik

2 Kommentare

  1. Marlies

    Klasse geschrieben. Auch, wenn ich bei Esoterik gleich aufgeschreckt bin,nach dem Motto: Oh Schreck, was schreibt sie denn da, ist sie etwa esoterisch? Aber das hast du ganz wunderbar richtig gestellt.Bis das Wort Esoterik einen anderen Anstrich bekommt ist es meiner Meinung nach noch ein langer beschwerlicher Weg. Der Einfachheit halber würde ich persönlich das Wort vorerst ausklammern, wenn ich Leute von einer selbstbestimmten Geburt überzeugen und aufklären möchte. Denn eine sanfte Geburt sowie Hypnobirthing sowie ätherische Öle, sowie Affirmationen und dergleichen haben einfach nichts mit Esoterik so wie wir es hier und heute im Westen verstehen zu tun. Die Dinge sind einfach, was sie sind. Und sie sind verdammt gut. Danke für diesen wunderbaren Artikel!… Vielleicht diskuti eren ja noch ein paar mehr mit?

    Antworten
    • Elisa Elß

      Vielen Dank für dein Feedback! Ja, intuitiv würde ich beide Konzepte auch nicht zusammen in einem Gespräch um Geburt einbringen, aber tatsächlich wird es oft durch Gesprächspartner*innnen in die Manege geworfen. Daher auch meine Bitte, dass dann nicht kommentarlos stehen zu lassen. LG Elisa 🙂

      Antworten

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Elisa Elß

Elisa Elß

Ich bin Elisa - Illustratorin, Mama, Freundin und ein Mädchen der 2000er. Ich lebe derzeit zusammen mit meinen beiden liebsten Männern und unserer "Little Lemon" in Freiberg. Außerdem habe ich gerade mein Studium der Kunstgeschichte abgeschlossen. Als Mitgründerin von TIO_B blogge, schreibe und gestalte ich - für ein zeitgemäßes Geburtsbild und für nachhaltige Verbesserungen in unserer Geburtshilfe!

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