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Es ist genug! – Leserbrief zu „Das Gewese um die Schwangerschaft“ (FAZ 11/21)

von | Nov 10, 2021 | 1 Kommentar

„Das Gewese um die Geburt“ – allein die Wortwahl Ihres Artikels von Jennifer Wiebking der letzten Sonntagsausgabe hat uns wirklich beeindruckt… auf der Schnappatmungsskala von 0-10 so bei 12. Der konsumkritische Ansatz um Filzhüllen und Gender Reveal Partys lässt sich noch recht einfach überlesen und als nichtig bewerten, da es definitiv andere Bereiche gibt, in denen dieser angebrachter wäre (Wie wäre es mit Weihnachten?).

Bisher durfte der Großteil der Frauen nicht in Würde und Sicherheit gebären.

Aber wann, Frau Wiebking, war es Frauen in der Menschheitsgeschichte bisher wirklich erlaubt ihre Schwangerschaft und Geburt zu zelebrieren, dass wir davon schon so genervt sein könnten wie ihre Interviewpartnerin? Richtig – noch gar nicht!

Bisher durfte der Großteil der Frauen nicht in Würde und Sicherheit gebären. Vielerorts noch immer nicht! Viel Mitspracherecht hatten/haben sie bisher auch nicht gehabt. Zunächst einmal hat nämlich die christliche Kirche eine Meinung zu Schwangerschaft, Geburt und Körper einer Frau. Im 1. Buch Mose heißt es: „Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.1 Luther setzte da sogar noch einen drauf:  „Der Tod im Kindbett ist nichts weiter als ein Sterben im edlen Werk und Gehorsam Gottes. Ob die Frauen sich aber auch müde und zuletzt tot tragen, das schadet nichts. Lass sie nur tot tragen, sie sind darum da.2 Wenn also das fehlende medizinische Wissen, der Blick nach innen, und die hohen Sterbezahlen im Umfeld einer jeden Schwangeren in der Vormoderne ihr keine Angst gemacht haben, dann sicherlich die Tatsache tagtäglich genau diese Angst und die verdienten Schmerzen gepredigt zu bekommen. Ab dem 16. Jahrhundert mischten sich zunehmend Männer in die Geburtshilfe ein, es wurden Machtkämpfe zwischen Hebammen und Badern bzw. Ärzten geführt. Ab da hatte die Frau sowieso keine Ahnung mehr von Geburt und ihrem eigenen Körper, denn klar, Männer hatten die Erfahrung und das Körpergefühl und natürlich die Ausbildung, um es besser zu wissen (nur das Männer auf dem Lande zum Beispiel bis weit ins 19. Jahrhundert nicht bei Geburten erlaubt waren.)3
Diese zunehmende Übernahme der Geburtshilfe durch zum Beispiel ehemalige Steinschneider (Lithotomie) hatte null evidenzbasierte Grundlage.4 Trotzdem hat man die Frauen aus ihrer instinktiv gewählt aufrechten Gebärposition auf den Rücken und in die Steinschnittlage gebracht. Weiter in die Abhängigkeit. Ohne nennenswerte Erfolge. Die Sterbezahlen blieben gleich hoch. Auch Kaiserschnitte konnten daran nichts ändern, wo es oftmals nicht notwendig schien eine Gebärmutterwunde zu schließen. Erst die Einführung von Hygienestandards (Ignaz Semmelweiß) konnten tatsächlich die Todesrate senken.5

Das Einzige, was wir jetzt brauchen sind Frauen, die in ihrem Körper bestärkt werden und Geburtshelfer, die ihren Platz kennen.

Aber heute, ich bitte Sie, heute im 21. Jahrhundert haben wir in Deutschland gute Hygienestandards. Wir haben das Wissen über die intrauterinen Prozesse. Wir können die Frauen auf die Geburt besser vorbereiten. Wir haben ‛nen Haufen Forschungsmaterial zu den Vorteilen der aufrechten Gebärhaltung. Wir haben auch eine sichere außerklinische Geburtshilfe. Wir haben eine gute Versorgung in Kliniken für Notfälle.

Das Einzige, was wir jetzt brauchen sind Frauen, die in ihrem Körper bestärkt werden und Geburtshelfer, die ihren Platz kennen. Das steht übrigens gleich in der Berufsbeschreibung: GeburtsHELFER. Sie helfen bei der Geburt. Sie sind dafür da, die Frau zu bestärken und um sie in ihrem Weg zu unterstützen, denn nein, keine Geburt ist gleich. Geburtshelfer sind da, um die Frau bei Komplikationen und Notfällen zu begleiten. Sie müssen mit der Frau arbeiten und nicht andersherum. Sie sind keine Piloten, sie sind das Flugpersonal. Frauen gebären Kinder. Und dafür dürfen Sie Wünsche haben. Punkt.

Und dann muss uns „Frau Schutt“ unbedingt noch erklären, wie Frau einem ökonomisch orientierten Gesundheitssystem vertrauen soll, wo spontane Geburten pauschal berechnet werden und Kaiserschnitte zur Gewinnmaximierung genutzt werden. Wo Geburtsstationen geschlossen und freiberufliche Hebamme durch finanziellen Druck aus der Geburtshilfe gedrängt werden. Wo die Kaiserschnittrate doppelt so hoch ist, wie von der WHO empfohlen. Wo sich seit Jahren die Studien mehren, dass zu viel interveniert wird. Wo immer neue Fälle von Gewalt in der Geburtshilfe auftauchen. Wo Initiativen wie Roses Revolution und unsere (The Image of_Birth) notwendig sind, um auf den Missstand aufmerksam zu machen.
Aber natürlich, „Frau Schutt“ und ihr Team sind da die Ausnahmen. Bei Ihnen wären die Frauen natürlich bestens versorgt. Und die Frauen können das auch bereits am kompetenten und vertrauensvollen Blick von „Frau Schutt“ ableiten. Ja, nee – ist klar.

Es ist genug und es ist JETZT die Zeit, dass Frauen endlich selbstbestimmt gebären dürfen.

Und die Geburtsmedizin darf sich bereithalten für ihre Bestimmung: den Notfall. Wie überheblich von uns Menschen, dass wir eine menschliche Geburt als Fehler der Natur und als dadurch interventionsbedürftig ansehen – mehr als 9 Milliarden Menschen auf der Welt sagen etwas Anderes.


1 Bibel, 1.Mose, 3:16
2 Luther, M. (1907). Werke, Weimarer Ausgabe Bd. 10/2, Weimar, S.296.
3 Labouvie, E. (2000). Andere Umstände: Eine Kulturgeschichte der Geburt. (2) Böhlau.
4 Dundes, L. (1987). The evolution of maternal birthing position. American journal of public health, 77(5), 636–641. Online: https://ajph.aphapublications.org/doi/abs/10.2105/AJPH.77.5.636 (10.11.2021)
5 Zglinicki, F. P. von. (1990). Geburt und Kindbett im Spiegel der Kunst und Geschichte (Sonderausg). Unas-Verl.

Auch noch interessant:

Kuntner, L. (2007). Das physiologische Gebärverhalten der Frau. Die Hebamme, 20(3), 156–163.
Online: https://doi.org/10.1055/s-2007-991544 (10.11.2021)

1 Kommentar

  1. Sylvia

    Vielen Dank für diesen Leserbrief. Traurig , dass er überhaupt geschrieben werden musste.

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